Echte Wildtulpe oder neue Gartensorte? Was wird heute unter dem Namen Tulipa sylvestris gehandelt und gepflanzt?

Zehntausend blühende Wildtulpen! Es ist nahezu unglaublich, was es in diesen Tagen auf dem Mittelstreifen der Schnackenburgalle nahe beim Volksparkstadion zu sehen gibt. Wer die Wildtulpen von anderen Hamburger Standorten kennt, reibt sich erstaunt die Augen. Bei Neumühlen etwa, in Hohenbuchen, im Jenischpark oder in den Vierlanden sind die großen Wildtulpenbestände seit Jahrzenten bekannt und können als Zeigerpflanzen historischer Gartenkultur gelten. Hier in Bahrenfeld sind sie plötzlich da, wie aus dem Nichts hervorgezaubert.

Derartige Massenpflanzungen von Wildtulpen und vielen anderen Zwiebelgewächsen gibt es erst seit wenigen Jahren. Vorher war die Wildtulpe wegen der mühseligen Vermehrung kaum im Handel.

Aufgefallen sind mir die „Neuen Wildtulpen“ zuerst im Jahre 2016 im Ohlsdorfer Friedhof. Normalerweise bilden Wildtulpen ausgedehnte Rasen mit vielen zentimeterbreiten grundständigen Blättern, von denen nur ein kleiner Teil die typisch, leicht überhängenden Blüten bildet. Hier standen die Pflanzen einzeln, jede mit einer relativ großen, aufrechten Blüte. Diese Neuen Wildtulpen mussten frisch gepflanzt worden sein. Sie schienen wüchsiger zu sein als sonst, aber das konnte auch auf die frische Pflanzung zurückzuführen sein. Und dass sie im ersten Jahr noch keine Ausläufer bilden konnten, liegt ja auf der Hand. Erneut aufmerksam wurde ich im Frühjahr 2020 am Junkernfeld im Landkreis Harburg, wo man die knallgelben „Neuen Wildtulpen“ auf dem Deich direkt neben dem berühmten Schachblumenbestand gepflanzt hatte.​

 

Eine kurzlebige Zwiebelpflanze

Daraufhin habe ich die Bestände in Ohlsdorf sowie im Neuen und Alten Botanischen Garten mehrfach aufgesucht und interessante Beobachtungen gemacht: In Ohlsdorf waren bei der „Paaranlage bei den Wasserbrunnen“ (Planquadrat BM 72) im Jahr 2015 tausend Zwiebeln gepflanzt worden. Am 16. April 2020 zählte ich 109 blühende Pflanzen, am 30. April nur noch 53. Das gleiche galt für den „Wildpflanzengarten“ (Planquadrat BQ72), wo im Jahre 2017 die Pflanzung von 4000 Stück erfolgt war, von denen ich bei meiner Zählung am 16. April 2020 noch etwas mehr als 300 blühende Pflanzen finden konnte, während es am 30. April 2023 nur noch 14 waren. Ein deutlicher Schwund, aber bei kommerziell gehandelten Zwiebelgewächsen auch nicht völlig ungewöhnlich. Auffälliger war, dass hier in den sieben Jahren an keiner Stelle die sonst für „echte“ Wildtulpen übliche vegetative Vermehrung stattgefunden hatte. Es gab nur blühende und keine nichtblühenden Pflanzen. Im Neuen Botanischen Garten, wo ich mehrere Zwiebeln ausgraben durfte, konnte ich das bestätigen: Ausläuferzwiebeln, wie sie sonst bei der Wildtulpe in Mengen gibt, werden bei der neuen Sorte nur in Ausnahmefällen gebildet.

Unbefangen betrachtet hat die „Neue Wildtulpe“ durchaus ihre Meriten. Von der echten Wildtulpe hat sie die leicht nickende Blüte übernommen, deren Eleganz sich so vorteilhaft abhebt von vielen Zuchtsorten der Gartentulpe. Aber da sie nicht wuchert, ist sie in Staudenpflanzungen unkomplizierter zu verwenden als die Wildform. In gemischten Staudenbeeten wie bei der „Paaranlage bei den Wasserbrunnen“ kann sie durchaus eine Bereicherung sein, auch wenn beobachtete Schwund natürlich von Nachteil ist. Problematisch ist ihre Verwendung in der freien Natur wie beispielsweise am Junkernfeld, denn dort wirkt sie eindeutig als Fremdkörper. Die „Neue Wildtulpe“ ist eine Zwiebelpflanze für das Beet, und keine Zwiebelpflanze für naturnahe Pflanzungen oder zum Verwildern, und schon gar nichts für die freie Landschaft. Der Naturschützer sollte also die Finger davon lassen.

Wildpflanze oder Gartensorte?

Wichtig und möglicherweise naturschutzrechtlich relevant erscheint mir jedoch die Frage: Handelt es sich bei diesen Neuen Tulpen um heimische Wildpflanzen, oder hat man hier eine Gartensorte gepflanzt?

Nur an einer einzigen Stelle habe ich im Netz Informationen in Bezug auf die Sorte  gefunden, nämlich um 2020 auf der Seite der englischen Firma Rareplants, wo sie unter dem Sortennamen Grootebroek geführt wird, aber heute nicht mehr verfügbar ist. (https://www.rareplants.co.uk/product/tulipa-sylvestris-grootebroek/). Die Form ohne Tochterzwiebeln soll demnach zuerst auf dem Friedhof niederländischen Stadt Grootebroek gefunden worden sein. Die langsame Vermehrung wird als Grund dafür angegeben, dass Rareplants nur alle Jubeljahre („once in a blue moon“) Zwiebeln dieser Sorte anbieten konnte.

Aber die hoch professionelle niederländische Blumenzwiebelindustrie ist da fixer und kann in ihren Laboren mit Hilfe von vegetativer Micropropagation in vitro in kürzester Zeit riesige Stückzahlen auch von bislang seltenen Blumenzwiebeln zu erzeugen. Seitdem sieht die Sache anderes aus. Seitdem wird nicht nur jede, aber auch jede Dorfstraße mit großblumigen Narzissen verschönt, seitdem können auch die „Neuen Wildtulpen“  in großen Mengen gekauft und gepflanzt werden. Die verantwortlichen Grünamtsleiter, Landschaftsgärtner und Naturschützer handeln vermutlich im guten Glauben, dass es sich hier um die heimische Wildtulpe handelt. Das ist aber nicht der Fall. Bei dem, was heute als „Wildtulpe“ oder „Weinbergstulpe“ im Handel ist, handelt es sich offenbar um den Klon einer neuen Gartensorte und nicht um die traditionelle Wildform.

Insofern ist die Benennung oder vielmehr die fehlende Benennung bei der Vermarktung dieser Sorte sehr problematisch. Sie wird nämlich als „Wildtulpe“ oder „Weinbergstulpe“ Tulipa sylvestris angeboten, ohne dass deutlich herausgestellt wird, dass es sich hier um eine neue Sorte handelt. Hier muss mehr Ehrlichkeit gefordert werden. Wer in einer Baumschule Jungpflanzen der heimischen Rot-Buche Fagus sylvatica bestellt, erwartet ja auch die grüne Wildform und nicht die Blutbuche.

Ein stadtgärtnerisches Experiment

An der Schnackenburgallee wurden nach Auskunft des Bezirksamtes Altona auf eine Fläche von 1200 Quadratmetern insgesamt 18.000 Wildtulpenzwiebeln gepflanzt, also rund 15 pro Quadratmeter. Hinzu kommen Muscari armeniacum, Galanthus nivalis und weitere Zwiebelpflanzen, zusammen 120.000 Stück, die von der Firma Flower Your Place bezogen wurden. Zusätzlich wurde eine Wildblumensaat von Rieger-Hoffmann eingebracht. Alles in allem ist dieses ein hochinteressantes stadtgärtnerisches Experiment, und es dürfte lohnend sein, die weitere Entwicklung für die nächsten Jahre zu dokumentieren und auszuwerten.

Hans-Helmut Poppendieck, Mai 2023

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