Eine Entdeckungsreise zu übersehenen Naturdenkmälern

Kein Zweifel: Die Bäume, um die es geht, sind Naturdenkmäler. Sie zeichnen sich aus durch Seltenheit, Schönheit, Eigenart und nicht zuletzt durch ihre Bedeutung für Wissenschaft und Praxis. Diese wilden Bäume sind, wenn man so will, junge Charakterbäume. Und wenn man sie in Ruhe wachsen lässt, werden sie sich in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten zu solch imposanten Baumgestalten entwickeln, wie wir sie in den beliebten Kalendern der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft bewundern können. Wenn man sie nur wachsen ließe! Dieser Text soll die Aufmerksamkeit auf ein bislang unentdecktes Stück des hamburgischen Naturerbes lenken und dazu beitragen, richtig damit umzugehen.

Solche Bäume werden nicht gepflanzt. Kein Gärtner oder Förster hätte sie so dicht an den Bachrand gesetzt, und vor dem professionellen Blick dieser Berufsstände dürften diese Bäume auch wenig Gnade finden. Entsprechen sie doch so gar nicht dem Typ des mehrfach verpflanzten Baumschul-Hochstammes, der mittlerweile mehr als fünfundneunzig Prozent aller Park- und Straßenbäume Hamburgs ausmachen dürfte. Die wilden Bäume an Tarpenbek und Bornbach haben sich ihren Standort selbst ausgesucht und ihre Form selbst gegeben. Sie sind hier ausgekeimt, als das Gelände noch offen war, denn ihr Stammgerüst hat sich in der Jugend in alle Richtungen ausbreiten können. Der Verbiss durch Wild und Weidevieh, Frostschäden, vor allem im Frühjahr, später Windbruch, vielleicht Blitzschlag, oder auch der Stammhieb durch den Menschen – all das mag die Gestalt der Bäume mitgeprägt haben. Viele von ihnen stehen schief und neigen sich mit der Last ihrer Krone über den Bach. Die Wurzeln machen vor dem Wasser halt, allein könnten sie das Gewicht der Krone wohl nicht kompensieren. Aber die Bäume stehen dennoch stabil, denn zu den Wegen hin haben sie brettartige Wurzeln ausgebildet, die sie fest verankern und der Schieflage der Krone entgegenwirken. Und auch im Kronenbereich sind die Bäume durchaus fähig, von sich selbst aus die Schieflage zu korrigieren. Einerseits schaffen sie zum Wege hin Gegengewichte durch junge Starkäste, andererseits bringen sie zur Wasserseite hin die schweren Äste zum Absterben, wodurch die Krone entlastet wird.

Lehrstücke zum Thema Baummechanik

Wilde Bäume sind Lehrstücke zum Thema Baummechanik, denn solche Erkenntnisse lassen sich nur an frei aufgewachsenen Bäumen gewinnen. Baumgestalt als Biographie! Jeder ungestört aufwachsende Baum schafft sich selbst die optimale Statik für seinen Kronenaufbau. Die gelegentlich vorgenommenen baumpflegerischen Maßnahmen sind gut gemeint, aber in der Regel überflüssig. Sie nehmen den Bäumen viel von ihrer ursprünglichen, selbstgegebenen Gestalt. Und schöner werden sie dadurch auch nicht. Hilfreich wäre es dagegen, den störenden Aufwuchs in der Nachbarschaft moderat zu entfernen, um den zukünftigen Charakterbäumen den Schattenwurf der Konkurrenz zu ersparen. Und vor allem in ihrer Nähe keine weiteren Bäume zu pflanzen, wie dies leider vor ein paar Jahren am Langenhorner Abschnitt der Tarpenbek geschehen ist.

Wie alt mögen diese Bäume sein? Die Tarpenbek war stets die historische Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein beziehungsweise Preußen. Alte Fotos zeigen einen Wiesenbach, dessen Ufer abgesehen von ein paar einsamen Erlen völlig baumlos waren. Im Jahre 1932 wurde die Tarpenbek aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses der beiden Länder begradigt und vertieft. Preußen wollte die nassen Wiesen trockenlegen, und Hamburg einen Vorfluter für das Regenwasser aus den neu erschlossenen nördlichen Stadtteilen schaffen. Auch der Bornbach erhielt seinen jetzigen Verlauf in den 1930er Jahren. Ich vermute aber, dass sich die Bäume nicht sofort, sondern erst rund zwanzig Jahre später angesiedelt haben, also nach Aufgabe der umgebenden landwirtschaftlichen Nutzung in den 1950er Jahren, und nach Anlegung der Wanderwege in den 1960ern. Nachprüfen ließe sich das anhand von historischen Luftbildern.

Ähnlich wie der Vollhöfner Wald und der Spreehafen-Wald verkörpern diese wilden Bäume ein Stück ungezähmter Natur in einer Stadtlandschaft, die sonst nahezu vollständig durch Planung, Kontrolle, Organisation und Pflanzungen geprägt ist. Sie lehren uns, Bäume nicht nur wegen ihrer Ökosystemdienstleistungen wertzuschätzen, sondern sie auch als Mitgeschöpfe, als Individuen, als Lebewesen mit einem ganz besonderen Eigen-Sinn anzusehen.

Der Winter ist eine gute Jahreszeit, um auf Entdeckungsreise zu wilden Bäumen in der Stadt zu gehen. Malerische junge Charakterbäume gibt es auch an vielen anderen Stellen. Da fallen mir die Eichen am Rande der Boberger Düne ein. Oder die unzweifelhaft wild aufgewachsene Hainbuche zwischen der Straße „Alsterufer“ und Kennedybrücke. Nehmen Sie Ihr Handy, ihre Kamera oder am besten Ihr Skizzenbuch mit, und dokumentieren Sie ihre Funde. Viel Erfolg!

Hans-Helmut Poppendieck, Januar 2024

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