Wildnis an der Deelböge 2017Städtische Wildnis? Urbane Wälder? Dynamik-Inseln in der Stadt? Solche Konzepte werden in anderen deutschen Städten eifrig diskutiert und praktisch erprobt. In Berlin wurde eine städtische Wildnis zum Naturpark erklärt, und auch Städte wie Frankfurt, Hannover und Dessau-Rosslau wollen erklärtermaßen „Wildnis wagen“. In Hamburg dagegen Fehlanzeige, hier wollen sich wie es scheint weder amtliche noch ehrenamtliche Naturschützer auf solch unordentlichen Kram einlassen. Dabei kann man auch bei uns mit der U-Bahn in die Wildnis fahren: Einfach an der Haltestelle Lattenkamp aussteigen und ein paar Schritte zu Fuß gehen. Unsere Wildnis liegt westlich der Jet-Tankstelle unter der Hochspannungsleitung auf inzwischen 20 Jahre altem Bauerwartungsland.

Im Jahre 2000 war sie bis auf die feuchte Senke im Zentrum noch fast vegetationsfrei. Rund zehn Jahre später hatte sich ein dichtes Weidengebüsch entwickelt, am Rande meist Salix x rubens, die Fahlweide. In der feuchten Senke dagegen ein Reinbestand der Silberweide Salix alba. Auf den noch offenen Flächen blühte der Schmetterlingsstrauch oder Sommerflieder Buddleia davidii. Bei meiner Kartierung im Sommer 2013 hatte ich hier 112 Arten gefunden, darunter auch trockenzeigende Pioniere wie Sandkraut Arenaria serpyllifolia, Acker-Filzkraut Filago arvensis, Wilder Dost Origanum vulgare, Färber-Wau Reseda luteola und Kronblattloses Mastkraut Sagina apetala. Insgesamt kamen hier damals 23 Gehölzarten vor, und das ist eine ganze Menge. Das Gebiet war ein wunderbarer Spiel- und Streifraum für abenteuerlustige Kinder, zum Pflücken wilder Blumensträuße und zum Sammeln von Wildgemüse, (Hundebesitzer trauen sich offenbar nicht rein), für Liebhaber von Erdflechten, zur Libellenbeobachtung, zum Studium von Sukzession und von ökologischen Gradienten, zum genussvollen Eintauchen in die städtische Artenvielfalt.

„Gehen Sie hin und schauen Sie sie sich diese Wildnis im Spätsommer an, dann ist sie am schönsten,“ hatte ich im März 2015 in meinem Skript „Wildnis in Hamburg“ geschrieben. Schon im nächsten Frühjahr war die Wildnis an der Deelböge weg. Man kann sich das auf Google Earth ansehen. Am 2. Februar 2016 war sie noch intakt, am 31. Mai hatte man sie platt gemacht. So dachten wir damals.

Aber neues Leben blühte aus den Ruinen. Man hatte die Weiden nicht gerodet sondern lediglich auf den Stock gesetzt. Im Jahr darauf waren sie wieder da. Und auf den lichten Stellen einige Arten, die ich hier vorher nicht gefunden hatte. Das Rapünzchen Valerianella locusta beispielsweise, und flächendeckend die Walderdbeere. Auch der Schmetterlingsstrauch hatte sich erholt. Im Winter war das Weidenaufwuchs bereits so dicht, dass sich ein Obdachloser hier in dessen Schutz eine Notunterkunft bauen konnte. Zwei Jahre später hatte sich das Dickicht dann schon wieder geschlossen. In diesem Frühjahr (2018) wurden hier Bienenstöcke aufgestellt.

Wildnis an der Deelböge Juni 2018 Was wir hier miterleben können, ist die niederwaldartige Nutzung einer Stadtbrache, die ein Musterbeispiel für Biodiversität und Vegetationsdynamik in der Großstadt bietet. Ist das nicht eine gute und eindeutig positive Nachricht?

Hans-Helmut Poppendieck, November 2018

Alle Photos © Poppendieck

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