Es ist kaum bekannt, dass es in Hamburg schon heute beispielhaft „naturnahe“ öffentliche Grünflächen gibt. Naturnahe Bereiche, die bereits seit langem (also nachhaltig!) eine anspruchsvolle ästhetische Gestaltung mit einer hohen Biodiversität verbinden, die den Kontrast zwischen klassischem Naturschutz und traditioneller Grünflächenpflege aufheben, und daher keine zusätzliche „Inszenierung von ‘wilder‘ Natur“ mehr nötig haben. Naturnahe Bereiche, die den Wunsch der Bevölkerung nach dem Erleben wilden Natur schon heute erfüllen, und die zeigen, dass „Wildwuchs“ durchaus keine Akzeptanzprobleme zu haben braucht. Naturnahe Bereiche, an denen wir unsere Modellvorstellungen testen können: Was heißt es, die Rasen in Hamburger Parks zu extensivieren und in Wiesen umzuwandeln? Und wie könnte so etwas dann aussehen? Solche Bereiche muss man zwar suchen wie die Nadel im Heuhaufen, aber es gibt sie. Auf dem Flughafengelände in Fuhlsbüttel beispielsweise (ob immer noch so schön wie früher?), am Narzissenhang im Alten Botanischen Garten (auch der könnte eine vorsichtige Auffrischung gebrauchen), oder an der leicht für jedermann zugänglichen Wiese an der Kaistraße in Neumühlen.Wiese an der Kaistrasse im Mai 2018

Hier habe ich viele Jahre lang im Juni studentische Exkursionsgruppen hingeführt. Es gibt im Jahreslauf drei Höhepunkte, das zeitige Frühjahr vor dem Laubaustrieb, dann Mitte Mai und schließlich Anfang Juni vorm ersten Wiesenschnitt. Im Frühling blühen am Hang Wildtulpe und kleiner Lerchensporn, die beide von hier seit mehr als 150 Jahren bekannt sind, als einzige überlebenden Zeugen des berühmten Rainvilleschen Gartens. Hinzu kommt der Weinbergslauch am Steilhang vor der Seefahrtsschule mit seinem flächenmäßig größten Hamburger Vorkommen. Im Mai dann ein Blütenmeer des Wiesenkerbels mit seinen duftigen Blütenständen. Im Juni kurz vorm ersten Schnitt entfaltet das ruderale Grasland der Stadtwiese seinen größten Artenreichtum. Jetzt blühen hier Taube Trespe Bromus inermis,  Wiesen-Bocksbart Tragopogon pratense, Moschus-Malve Malva moschata, Beinwell Symphytum officinale, Johanniskraut Hypericum perforatum oder Acker-Glockenblume Campanula rapunculoides. Zwar sind es überwiegend Allerweltsarten, aber doch schön und reich blühende Allerweltsarten. Als I-Tüpfelchen kommt hier der in Hamburg seltene Grassamenankömmling Elymus caninus (Hundsquecke) vor, auch ein Zeugnis der alten Gartenkultur.Wiese an der Kaistrasse im Frühjahr 2018

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings. Leider hat die Altonaer Gartenverwaltung es für nötig befunden, die in Hamburg zur Mode gewordenen Blumenbänder mit großblühenden Narzissen oder Tulpen, wie sie von Verver Export oder Flower-Your-Place angeboten werden. maschinell in diesen naturnahen Bereich pflanzen zu lassen, stellenweise sogar direkt in einen vorhandenen Wildtulpenbestand. Durch diese schematischen und völlig naturfremden Manipulationen, die im Keukenhof oder auf einer BUGA ihren Platz haben mögen. entwerten die Altonaer Kollegen das, was sie in jahrelanger Arbeit an dieser Stelle auf vorbildliche Weise geschaffen haben. Kleiner Trost: Es reicht, die betreffenden Flächen ein, zweimal kurz nach der Blüte mähen zu lassen; dann sind die protzigen Tulpen und Narzissen wieder weg und die Wiese ist so schön wie vorher.Wiese an der Kaistrasse mit Blumenband 2018

Hans-Helmut Poppendieck, 20 Juni 2018

Alle Photos © Poppendieck

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