Sex und Laubfall bei einem insektenfeindlichen Friedens- und Klimabaum

Beim Pflanzenquiz des Botanischen Vereins war der Ginkgobaum in letzten Jahr zu Weihnachten das Thema gewesen. Gern komme ich jetzt – genau zur richtigen Jahreszeit – der Anregung von Horst Bertram nach, etwas von meinen Beobachtungen an den Ginkgo-Bäumen in Klein-Flottbek zu berichten. Die Ginkgos im und beim Neuen Botanischen Garten wurden Ende der 1970er Jahren gepflanzt. Schon damals diskutierten wir im Kollegenkreis die spannende Frage, ob es Buben oder Mädel werden würden. Es sollte mehr als dreißig Jahre dauern, bis wir Antworten bekamen.

Ginkgo ist zweihäusig. Im öffentlichen Grün werden die eher langweiligen männlichen Pflanzen bevorzugt. Die mirabellenähnlichen, gelblichgrünen Samen der Weibchen werden nämlich glitschig, wenn sie zu Boden fallen, man kann darauf ausrutschen, und sie riechen unangenehm nach ranziger Butter. In Amerika spricht man daher vom „Stinko Ginkgo“. Gingko-Weibchen zu pflanzen heißt Beschwerden der Passanten beim Bezirksamtsleiter zu provozieren. Andererseits werden „Ginkgo-Nüsse“ in China gern gegessen. Ich habe im New Yorker Central Park einmal zwei Asiaten beim Abernten eines Ginkgo-Baumes zugesehen. Aber in deren Heimat isst man ja auch Schlangen, Fischlippen, Entenfüße und Vogelnester.

In Botanischen Gärten sind dagegen die Weibchen beliebter, weil man hier die Samenanlagen der Gymnospermen demonstrieren und die Studierenden mit Begriffe wie Megaspore, Megagametophyt, Mikropyle und Archegonium quälen kann. Am schönsten ist es, wenn beide Geschlechter nebeneinander vorkommen. Dann sollte man um Weihnachten herum die unter dem Baum liegenden Samen aufsammeln und mikroskopieren. Mit viel Glück kann man dann bewegliche Spermazellen (Spermatozoiden) auf dem Weg zur Eizelle beobachten. Das ist zum ersten Mal im Jahre 1896 dem Forscher Sakugaro Hirase im Botanischen Garten Tokyo geglückt. In einigen Botanischen Gärten haben clevere Kollegen weibliche Triebe in Augenhöhe auf männliche Pflanzen gepfropft. Bewundern kann man so etwas im Späth Arboretum der Berliner Humboldt-Universität.

Zurück zu den Ginkgos in Klein-Flottbek. Eine sichere Geschlechtsbestimmung ist auch bei nichtblühenden Ginkgos möglich, denn bei ihnen gibt es wie beim Menschen Geschlechtschromosomen. Um sie zu studieren, muss man junge Wurzelspitzen mit Karminessigsäure färben und zu Quetschpräparaten verarbeiten. Jedenfalls habe ich das früher so gemacht. Wem das zu kompliziert ist, für den gibt es eine alte Gärtnerregel, und die lautet:

Männliche Ginkos werfen das Laub früher ab als Ginkgo-Weibchen.

Das wäre ein Beispiel für das Vorkommen von sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmalen bei Pflanzen. Über die biologische Bedeutung wird viel spekuliert. Manche sagen, dass männliche Pflanzen deswegen weniger Laub zur Assimilation brauchen, weil sie ja keine Nährstoffe für die Ausbildung der Samen zu liefern haben. Das mag richtig sein oder auch nicht.

Aber stimmt es auch wirklich? Nach meinen Beobachtungen in den Jahren 2017 bis 2019 spricht einiges dafür. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mir die Pflanzen nicht zur Blütezeit im September sondern immer erst im Oktober zur Zeit der Samenreife angesehen habe, und zwar im Rahmen eines Kurses, den ich für das Zentrum für Weiterbildung an der Universität Hamburg gegeben hatte. Insgesamt stehen 18 Ginkgo-Bäume an der Ohnhorststraße, und sie verhielten sich jeweils um den 15. Oktober herum so:

12        Exemplare durchgehend in allen drei Jahren kahl und ohne Samen; mutmaßlich Männchen

2          Exemplare durchgehend in allen drei Jahren mit Laub und mit Samen; eindeutige Weibchen

2          Exemplare, bei denen Samenbildung und Belaubung variabel ist; mutmaßlich Weibchen, die ihre endgültige Ausprägung noch nicht erreicht haben

2          Exemplare in allen drei Jahren mit viel Laub aber ohne Samen; wahrscheinliche Weibchen,
die das samentragende Alter noch nicht erreicht haben

Die Ergebnisse der Jahre 2017 bis 2019 habe ich in einer Abbildung zusammengefasst. Im Jahre 2020 habe ich meinen Gartenkurs nicht durchgeführt und mir die Ginkgos leider nicht angesehen. Das werde ich in diesem Jahr unbedingt nachholen. Vielleicht möchten Sie, geneigter Leser, dies auch tun. Also los zum Botanischen Garten oder wo immer sie sonst einen weiblichen Ginkgo-Baum kennen.

Jetzt zu der Frage, ob wir heute noch Ginkgos pflanzen sollten. Ehrlich gesagt würde ich sie lieber offen lassen. Ich bin kein großer Freund von Proskriptionslisten, auf denen unerwünschte Pflanzenarten für vogelfrei erklärt werden. So trauere ich immer noch ein wenig der einzigen Götterbaumallee in Hamburg an der Brabandstraße nach, die vor zwei Jahren gefällt wurde. Ebenso wenig bin ich ein Freund von rigorosen Handlungsanweisungen wie „nur noch heimische Gehölze pflanzen“ oder „nur noch klimawandelresistente Zukunftsbäume pflanzen“. Einen Baum zu pflanzen kostet Geld, und man muss mit einer Fehlentscheidung meist lange leben. Da heißt es, in jedem Einzelfall eine besonnene Entscheidung zu treffen.

Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Das dürfte nicht nur auf Wallenstein, sondern auch auf den Ginkgo zutreffen. Lange wurde der Ginkgo eindeutig positiv gesehen, er wurde als lebendes Fossil und als Heilmittel gegen Demenz gefeiert, Goethe hat ihm ein Gedicht gewidmet, er wurde 2000 zum Baum des Jahrtausends ernannt, und der Umweltbetrieb Bremen preist ihn als starken klimaresistenten Zukunftsbaum. Die Deutsche Gartenbaugesellschaft vergibt jährlich den „Golden Ginkgo“ an Personen, die sich um das öffentliche Grün verdient gemacht haben; zuletzt war es Gerhard Doobe von der BUKEA in Hamburg. Aber in jüngster Zeit erheben sich auch kritische Stimmen. Der BUND Hamburg hält ihn – durchaus nachvollziehbar – unter ökologischen Gesichtspunkten für kaum besser als einen Plastikbaum, und die Versandgärtnerei Immengarten setzte ihn als Nicht-Bienenpflanze auf die Schwarze Liste.

Bei uns in Groß-Borstel stehen seit etwa 20 Jahren am Hang des Licentiatenberges drei Ginkgo-Bäume. Hier wie an anderer Stelle wurden sie als politische Symbole für Frieden gepflanzt, als Nach-Denkmale im Zusammenhang mit der Diskussion um das inzwischen abgetragene Kriegerdenkmal von 1922. Die symbolische Bedeutung als Friedensbaum hat der Ginkgo bekanntlich durch ein Exemplar in Hiroshima erlangt, das nur einen Kilometer von der Abwurfstelle entfernt die Atombombenexplosion heil überlebt hatte. Hätte man im Lichte der Erkenntnisse um die geringe Insektenfreundlichkeit die Ginkgos am Licentiatenberg besser nicht pflanzen sollen? Mir fällt es schwer, die beiden so unterschiedlich gelagerten Motivationen gegeneinander abzuwägen. Dass Ginkgo-Bäume im und am Botanischen Garten einen wertvollen didaktischen Zwecke erfüllen, dürfte allerdings unbestritten sein.

Wollen wir es nicht dabei belassen, dass es an einigen wenigen Stellen gute Gründe für die Pflanzung eines Ginkgo-Baumes geben kann und an vielen anderen Stellen nicht? Und gilt das nicht für jede Baumpflanzung?

Hans-Helmut Poppendieck, 25. Oktober 2021

 

 

  • (Foto 1) Gingko biloba am Botanischen Garten Klein-Flottbek Herbst 2017, 2018 und 2019. Markierung: gelb = steril, rot = mit Samen, orange = wechselnd oder steril aber stark belaubt. Rote Kreise = durchgehend mit Samen, gelbe Kreise = maximal in einem der drei Jahre mit Samen. Geschlechtsausprägung und Belaubungsgrad stimmen in allen Jahren weitgehend aber nicht 100%ig überein, Abweichungen sind angemerkt. Weibliches Geschlecht und persistierendes Laub scheinen miteinander korreliert zu sein.
  • (Foto 2) Ginkgo biloba, mit ungewöhnlich reichem Samenansatz. Hier wurde ein weiblicher Zweig auf einen männlichen Baum gepfropft. Späth Arboretum, Berlin Baumschulenweg.
  • (Foto 3) Ginkgo biloba, die gleiche Pflanze wie oben. Im Blitzlicht zeigt sich, dass die Samen mit einer das Licht stark reflektierenden Wachsauflage bekleidet sind.
  • (Foto 4) Gingko biloba mit knallgelbem Herbstlaub
  • (Foto 5) Gingkobäume als „Friedensbäume“ am Licentiatenberg in Groß-Borstel. Das frühere Kriegerdenkmal wurde entfernt und durch einen roten Abfalleimer ersetzt.

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